Politisch motivierte Morde
Der fünfte Newsletter aus der Wrobelei, in welchem wir erfahren, wie Tucholsky zur Abtreibung stand und was er zum Rathenau-Mord gesagt hat. Außerdem: Pfirsich-Melba.
Vor gut 100 Jahren wurde Walther Rathenau ermordert - und vor gut einem Monat verurteilte der Supreme Court Millionen Frauen zum Tode.
Rathenau-Mord
Kurt Tucholsky war Zeitgenosse Rathenaus - und die Erschütterung der Republik durch die Morde der Rechts-Terroristen verschiedenster Couleur wurde von ihm und anderen Autor:innen der Weltbühne umfassend kommentiert.
Entgegen des konservativen Narrativs der zersetzenden Haltung linker und linksliberaler Publizist:innen (wie in Bezug auf Tucholsky beispielsweise massiv vertreten von Golo Mann, der in seiner “Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts” beklagt, es habe zu viele Tucholskys gegeben, die immer nur dagegen gewesen wären) lässt sich an Tucholskys unmittelbarer Reaktion auf den Rathenau-Mord erkennen, dass er sehr wohl eine starke und kräftige Republik einforderte, wie hier in “Das Opfer einer Republik”, erschienen am 26.06.1922 in “Welt am Montag”:
Was seit dem 9. November 1918, nach dem Kapp-Putsch, nach der Ermordung Erzbergers versäumt worden ist: jetzt und heute muß es Wirklichkeit werden. Hinaus mit den paar tausend Beamten aus der Republik, die gegen uns arbeiten! Hinaus mit den unzuverlässigen Generalen! Her mit der Auflösung der nationalen Verbände! Herunter von den Straßen mit allen Monarchisten und schwarzweißroten Tüchern!
Walther Rathenau soll nicht umsonst gefallen sein. Wenn ihr wollt, dann habt ihr an seiner Bahre endlich die Republik!
Oder noch deutlicher in seinem gut und gerne als AgitProp durchgehenden Gedicht “Rathenau” aus der “Weltbühne” vom 29.06.2022:
Schlag zu! Schlag zu! Pack sie gehörig an!
Sie kneifen alle. Denn da ist kein Mann.
Da sind nur Heckenschützen. Pack sie fest –
dein Haus verbrennt, wenn dus jetzt glimmen läßt.
Zerreiß die Paragraphenschlingen.
Fall nicht darein. Es muß gelingen!
Vier Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug.
Du stehst vor deinem letzten Atemzug.
Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
Stirb oder kämpfe!
Drittes gibt es nicht.
Es gehört schon einiges dazu, aus einem Satz wie “Stirb oder kämpfe! Drittes gibt es nicht.” eine Mitschuld am Untergang der Republik herauszulesen.
Nichtsdestotrotz lässt sich in beiden Texten sehr deutlich die zunehmende Frustration Tucholskys herauslesen. Frust darüber, seit Jahren unentwegt anzuschreiben gegen eine Republik, in deren Administration nahezu ausschließlich Republikfeinde sitzen. Frust darüber, seit Jahren unentwegt gegen eine Justiz anzuschreiben, die gegen Links unerbittlich urteilt, gegen Rechts aber äußerstes Verständnis aufbringt. In der Rezension zur Erstauflage des bis heute grundlegenden Werkes von Erwin Julius Gumbel zur politischen Justiz der Weimarer Republik schreibt Tucholsky 1921:
Das ist alles Mögliche. Justiz ist das nicht.
Ganz klar wird das, wenn wir das Schicksal der beiden Umsturzversuche: Kapps und der münchner Kommunisten vergleichen, zweier Versuche, die sich juristisch in nichts unterscheiden:
Die Kommunisten haben für ihren Hochverrat 519 Jahre 9 Monate Freiheitsstrafe erhalten. Eine Todesstrafe hat man vollstreckt.
Die Kapp-Leute sind frei ausgegangen.
Und auch hier steht eine Passage, deren Thema sich durch sein ganzes Werk zieht, in den ersten Jahren der Republik aber besonders deutlich hervortritt: Die Suche nach WIRKUNG. Es wird diese zunehmend verzweifelte Suche nach Wirkung sein, die ihn späterhin auch für kommunistische Blätter schreiben lässt, die ihn zur drastischen Text-Bild-Kollaboration mit John Heartfield “Deutschland, Deutschland über alles” bringen wird. Kurz nach der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 wird er an Walter Hasenclever schreiben
Ich werde nun langsam größenwahnsinnig – wenn ich zu lesen bekomme, wie ich Deutschland ruiniert habe. Seit zwanzig Jahren aber hat mich immer dasselbe geschmerzt: daß ich auch nicht einen Schutzmann von seinem Posten habe wegbekommen können.
Nun ist das mit Aktualisierungen historischer Texte ja immer so eine Sache. Es ist sehr verführerisch, die Neu-Rezeption alter Texte statt auf den eigenen Blick auf die Hellsichtigkeit der Verfasser:innen zu schieben. Tatsächlich aber dürfte es weit weniger Visionär:innen gegeben als wir vielmehr als Menschheit ziemlich auf der Stelle treten. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass wir gerade aus den beiden hier zitierten Rathenau-Texten etwas für heute und hier herausziehen können. Denn wir haben den Vorteil, zu wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist.
Die geschlagenen und krummgeprügelten Generale sowie ihre Hintermänner von der Schwerindustrie und dem Großagrariertum predigen seit Jahren unablässig, dass die Konkursverwalter der Monarchie an allem schuld seien. Und dank ihrer ausgezeichneten, gutbezahlten Propaganda finden sie Dumme in Massen, die das glauben. Nicht der allein mordet, der die Handgranate wirft. Auch der, der die Atmosphäre schafft, in der so etwas möglich ist. Diese Atmosphäre ist von den Leuten um Karl Helfferich, dem Finanzverderber Deutschlands, bewußt geschaffen worden.
So, wie Karl Helfferich intellektuell an der Ermordung Erzbergers schuld ist, so sind die beiden Rechtsparteien – die Deutschnationale und die Deutsche Volkspartei – schuld an der Verbreitung der faust-dicken Lügen und Verdrehungen, die Rathenau das Leben gekostet haben. Die Provinzpresse rast seit Monaten gegen den Republikaner, den Steuererfasser, den Juden Rathenau. Denn das ist hier noch immer so gewesen: was der Junker versaut, muß der Jude ausfressen.
Na, das kann einem doch ein wenig bekannt vorkommen, oder?
Dann zum Abschluss noch dieses:
Wir andern aber vergessen viel zu rasch. Wir konstatieren und gehen nach Hause. Jene dagegen wiederholen Tag um Tag und Tag um Tag, seit zwei Jahren: den Schwindel vom Dolchstoß, die Legende vom Scheidemann-Waffenstillstand, der doch eine Monarchenniederlage war, die historischen Unwahrheiten vom U-Boot-Krieg und die Lüge vom Erzberger-Frieden. Und sie drehen die Geschichte unermüdlich so lange, bis auch sie ihnen und ihrer Existenz recht gibt.
Und wir? Wir trommeln nicht. Wir reden immer zu uns. Wir glauben, es sei nicht unterhaltend, den Leuten das einzuhämmern, was sie doch erst einmal wissen müßten, bevor sich die Grundlage für ihre Wandlung bilden kann. Geld fehlt. Freunde fehlen, Zeitungen schweigen. Immer wieder? Nie genug. Blut steht auf dem Spiel.
Immer wieder. Und immer wieder die Wahrheit sagen. Denn die Lügner lügen in unglaublicher Geschwindigkeit und Ausdauer. Schaut euch mal prototypische Timelines in der Querdenker-, Reichsbürger- oder Identitärenszene hat - da herrscht eine kaum zu glaubende Schlagzahl.
Vielleicht ist Tucholskys vorgeschlagenes Rezept, konsequent auf die Verfassungstreue der Administration zu achten und gleichzeitig aktiv und entschieden für die Demokratie zu werben, nicht die schlechteste Idee. Und auch dahin zu gehen, wo es weh tut, eben nicht nur zu uns sprechen, sondern zu den Nichtüberzeugten. Wenn die Lügner die besseren Verkäufer sind, hat die Wahrheit keine Chance.
SCOTUS und §219a
Die Kenner mittelalterlichen Lateins werden sich eventuell Ende Juni gewundert haben, dass der Schotte als solcher in den TwitterTrends lag. Tatsächlich gab es aber keine Zusammenrottung von Lateinexpert:innen, sondern eine dramatische Entscheidung des Supreme Court der USA, die wohl nur den Auftakt für eine Reihe weiterer Entscheidungen bilden dürfte, mit denen Menschen- und Bürgerrechte in den USA weiter abgebaut werden und der spätestens seit Trump offenkundige Umbau zur Autokratie in eine entscheidende Phase tritt.
Hierzulande wurde die am selben Tag beschlossene Abschaffung des §219a StGB gefeiert als großen Schritt zu Sicherung von Freiheitsrechten. Ich bin da skeptisch. Die Abschaffung dieses Paragraphen war überfällig und schafft tatsächlich ein gutes Stück Sicherheit für Schwangere und Ärzt:innen. Doch ich habe die leise Befürchtung, dass es ein Pyrrhus-Sieg gewesen sein könnte. Denn an den Kern, die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, hat sich die Zukunftskoalition nicht getraut. Und so wie gesellschaftliche Diskurse nun mal funktionieren, habe ich große Zweifel, dass es in naher Zukunft noch einmal gelingt, die notwendige Aufmerksamkeit, den nötigen öffentlichen Druck, die notwendige Stimmungslage zu erzeugen. Gefühlt ist das Thema erst mal durch, jetzt sind wieder andere dran.
Für Schwangere in den USA steht schlimmstes zu befürchten. Denn wir wissen schon lange und sehr genau, was ein rigides Abtreibungsverbot bewirkt: Mehr unsichere Abtreibungen. Und unsichere Abtreibungen bringen Tod. Es ist erschütternd, wie hier mit leichter Hand und kaum verhohlener Freude Menschen sehenden Auges in den Tod geschickt werden. Denn genau das wird passieren.
Wie schwer der zu gehende Weg ist, kann ein Blick darauf zeigen, wie lange und intensiv wir gesellschaftlich diese Diskussion schon führen. Das Abtreibungsrecht war eines der ganz großen gesellschaftlichen Themen der Weimarer Republik - mit allmählichen Fortschritten, die alle von der nationalsozialistischen Gesetzgebung kassiert wurden. Mit dem Ergebnis, dass in der Bundesrepublik wieder ganz von vorne begonnen werden musste. Und die ist nun auch schon fast acht Jahrzehnte alt.
Kurt Tucholsky hat sich mehrfach zu dem Thema geäußert, denn es gehörte zu den zentralen Diskussionsfeldern der sozialen Frage der 20er Jahre. Die heutige Debatte dreht sich weitaus stärker um Frage der Selbstbestimmung als dies vor 100 Jahren der Fall war. Und so stellt auch Tucholsky, der das Elend seiner Zeit im Band Deutschland, Deutschland über alles überdeutlich offenbar machte, die verheerenden, existenzbedrohenden Folgen ungewollter Schwangerschaft in den Vordergrund. Im von mir exemplarisch herausgesuchten Text dazu demaskiert er zugleich die Scheinheiligkeit der Institutionen, denen das Recht auf Leben angeblich so wichtig ist:
Die Leibesfrucht spricht
Für mich sorgen sie alle: Kirche, Staat, Ärzte und Richter.
Ich soll wachsen und gedeihen; ich soll neun Monate schlummern; ich soll es mir gut sein lassen – sie wünschen mir alles Gute. Sie behüten mich. Sie wachen über mich. Gnade Gott, wenn meine Eltern mir etwas antun; dann sind sie alle da. Wer mich anrührt, wird bestraft; meine Mutter fliegt ins Gefängnis, mein Vater hintennach; der Arzt, der es getan hat, muß aufhören, Arzt zu sein; die Hebamme, die geholfen hat, wird eingesperrt – ich bin eine kostbare Sache.
Für mich sorgen sie alle: Kirche, Staat, Ärzte und Richter.
Neun Monate lang.
Wenn aber diese neun Monate vorbei sind, dann muß ich sehn, wie ich weiterkomme.
Die Tuberkulose? Kein Arzt hilft mir. Nichts zu essen? keine Milch? – kein Staat hilft mir. Qual und Seelennot? Die Kirche tröstet mich, aber davon werde ich nicht satt. Und ich habe nichts zu brechen und zu beißen, und stehle ich: gleich ist ein Richter da und setzt mich fest.
Fünfzig Lebensjahre wird sich niemand um mich kümmern, niemand. Da muß ich mir selbst helfen.
Neun Monate lang bringen sie sich um, wenn mich einer umbringen will.
Sagt selbst:
Ist das nicht eine merkwürdige Fürsorge –?
aus: Lerne lachen ohne zu weinen, Ernst Rowohlt Berlin 1931 (online u.a. verfügbar bei Textlog und Wikisource)
Fundstücksinspiration
Bei einem meiner stupid walks for my stupid mental health stieß ich auf ein Fahrrad. Das ist an sich nicht besonders bemerkenswert, aber dieses Fahrrad war beschriftet:
Ein Fahrrad, an dem dran steht, dass es ein Fahrrad ist - damit es ja niemand für eine Waschmaschine hält. Das begeisterte mich sehr. Und es ließ mich an einen meiner Lieblingstexte Tucholskys denken. In Die Karte für den Pfirsich-Melba (1930) heißt es:
Wir haben es mit den Schildern. Jakopp hat es außerdem noch mit dem Wasserwerk in Hamburg, Karlchen hat es mit den Mädchen, und ich sehe zu. Aber sonst haben wir es mit den Schildern. Am liebsten hätten wir den Kosmos so, dass an jedem Ding dransteht, was es ist, damit man es weiß. Wir freuen uns immer furchtbar, wenn wir sehn, wie an einem Spucknapf ein Schild hängt: SPUCKNAPF, damit niemand glaube, es sei ein Alligator.
Zumindest für den heutigen Geschmack ist die Dramaturgie des Textes vielleicht etwas zu länglich geraten, aber lest selbst. Dann erfahrt ihr auch, was das alles mit Pfirsich-Melba zu tun hat.
Kurt Tucholsky an Walter Hasenclever, 17.5.1933 in: Kurt Tucholsky, Briefe 1933-1934 (=Gesamtausgabe Texte und Briefe, Band 20). Rowohlt Verlag, Reinbek 1996, hier: B17, 100-104
aus dem bereits zitierten Text “Opfer der Republik”, erschienen am 26.06.1922 in “Welt am Sonntag”, online verfügbar unter https://www.textlog.de/tucholsky-opfer-republik.html
aus der bereits zitierten Rezension “Das Buch von der deutschen Schande”, erschienen am 08.09.1921 in “Die Weltbühne”, online verfügbar unter https://www.textlog.de/tucholsky-buch-schande.html